von Elke » Di 18. Jul 2017, 12:39
Leseprobe.
Da die Ausschreiber auch Auszüge annehmen und ich gestern im Zuge des Lehrbriefes den Zustand meines Manuskriptes "Ene mene eBay" geprüft habe, konnte ich ihnen das anbieten.
Vllt. seid ihr ja auch neugierig. :-)
Der neue Nachbar
Der Haustürschlüssel passte nicht. Oder er passte nicht richtig.
Hinter der Tür im Innern des Hauses waren Stimmen zu hören, die Stimme einer Frau und die eines Kindes. Sie zankten: „Scheiße, dass du nicht einmal hören kannst!“ Das Kind lachte und die Stimme der Frau wurde böse. „Ich habe gesagt, pass auf deine Jacke auf. Aber was machst du, du verlierst sie auf dem Spielplatz!“
Dann war es still. Peer drehte wieder den Schlüssel, ruckelte am Schloss, halb hinein, halb heraus zog er den Schlüssel und wandte den Kopf nach hinten.
Sein Hals war steif, verdammt steif. Ich komme nur so weit, dass ich den Oberarm sehe, die Schultern sehe ich nicht, wenn ich den Kopf drehe. Ich muss mit Chewbakker reden, sagte er sich, im nächsten Moment schob er die Idee fort: Ich bin nicht länger nur Körper. Er hob den Arm, klopfte gegen das Glas der Türscheibe. Ins Halbdunkel jenseits des Glases schaute er. Ich schaue, sagte er, er schaut, es schaut, ich kann schauen, ich bin dem gewachsen, ich – oh, mitten in die Gedanken platze wieder die Stimme der Frau, noch lauter, noch böser: „Die Scheiß Kamera ist deinetwegen kaputt gegangen, die kostet mindestens zweitausend Euro, weißt du das?“
Er ließ den Arm sinken, zwang seinen Kopf über die Dehnung des Halses hinaus, weit nach hinten, noch weiter, noch weiter. Die verdrehten Augen stoppten vor den Stufen, dem Hausaufgang und der Holzrampe, auf der Chewbakker ihn eben nach oben gerollt hatte. Vergiss es, sagte er sich, und nun, nachdem er den Weg nach vorne angetreten war, wandte er den Kopf wieder zur Haustür. Er sah zur Klingel und entdeckte seinen Namen zuunterst. PEER LUYKEN. Ich wohne hier, he, alter Knabe, ich wohne hier! Er legte den Finger auf den runden Knopf, erregt, und ... Idiot. Wer soll dir wohl aufmachen? Wut überkam ihn, er drückte die Knöpfe gleichzeitig, alle, von unten nach oben und so beherzt, dass die Stimmen jenseits der Tür verstummten.
Was jetzt? Wo waren sie jetzt? Warum rannte das Kind nicht zur Tür?
Er rieb sich die Brauen, ein Klack war zu hören, ein Klack, dann: „Kannst du mal drücken, du da außen?“ – Was? Er hatte Recht gehabt, das Kind stand jetzt auf der anderen Seite und öffnete, stemmte die schwere Tür gegen seinen Körper.
Peer schob sich hinein, schnell, und versuchte alles mit einem einzigen kurzen Blick zu erfassen: Gegenüber war der Treppenhausaufgang, dahinter ein dunkler Gang, zur rechten und zur linken je eine Wohnungstür. Das Kind schoss hinter ihm nach vorne, die Tür fiel ins Schloss. Ein Luftzug, und es herrschte Stille.
„Wer ist da?“
Mein Gott, hast du erwartet, dass jemand dir die Zimmer deiner Wohnung vorführt, dass jemand dir zeigt, wo du deine Wäsche einsortierst und dich einweist, wie die Klospülung funktioniert? Sie haben dir die Rampe hingesetzt, das war Chewbakker, der hat dich hergebracht, jetzt bist du hier, zu Hause. Willkommen, alter Knabe. Willkommen in der Welt außerhalb der Anstalt.
Angst kam hoch. Die Halswirbel schmerzten. Er blickte gegen die Wand des Treppenhauses, sie war mit khakifarbener Ölfarbe getüncht, weiter oben bildete ein dottergelber Saum den Rand des Farbabsatzes und ein weißes Loch starrte ihn an. Feiner Putz war herab gerieselt, auf die blanken schmutzigen Holzbohlen. Peer hob den Blick zur Decke, sah auf verstaubte Spinnweben. Komisch, dachte er, komisch, dass man ausgerechnet mir – im selben Moment schossen zwei Gedanken gleichzeitig durch seinen Kopf: Eine Putzfrau müsste man haben, ja, und der andere Gedanke war weitaus bedrückender: bei all dem Dreck wird der Geruch von Pisse und Kot nicht weiter auffallen.
„Sergio? Mein Gott, mein Gott, oh, bin ich froh, dass es nicht mein Mann ist“, kam die Frauenstimme an sein Ohr und endlich sah er sie.
Sie war groß. Groß, meine Güte, er hielt inne. Waren sie seit dem 17. April nicht alle groß? Er musste die Augen senken, weil er ihr genau auf den Schritt sah und sein Blick wanderte hinab, den Wollrock hinunter zu den Fußknöcheln, zu hochhackigen Stiefeletten, dann von den Beinen wieder hinauf. Die Bluse, ein feiner Stoff, stellte er fest, sorgsam gebügelt, chic und warm, und die Haare der Frau waren kurz, elegant und von teurer Hand geschnitten. Ihre Wangen streifte – wie sie mit geneigtem Kopf auf ihn herabsah – ein goldglänzender Reif, vom Ohr bis zur Schulter, und ein feiner Duft von Chanel oder Chider, was auch immer es war, es belegte den Muff des kalten Treppenhauses, aufdringlich und zugleich beschwichtigend. Als er guten Tag sagte, ruhten seine Augen wieder genau auf der Stelle, an der der Zwickel ihrer Strumpfhose sich zeigte – so kurz war ihr Rock.
„Wer bist du?“, fragte sie.
Er hob den Blick. Die Arme des Jungen umklammerten die Beine seiner Mutter, als müsse er sie vor ihm beschützen.
„Ich, ich“, sagte er, er drehte sich, brachte Oberkörper und Hals genau dorthin, wo die Schulter ihn nicht weiter hingelassen hatte und verdrehte die Augen auf die Wohnungstür gegenüber. „Bin ihr neuer Nachbar.“
„Okay“, sagte sie. Sie zog das Okay so in die Länge, dass es klang, als wäre überhaupt nichts okay. „Also gut!“ Sie sah ihn forsch an. „Ich heiße Janina.“ Doch statt ihm die Hand hinzustrecken, verschränkte sie die Arme vor der Brust.
Das Kind löste sich von ihrer Seite, hüpfte an das Fensterchen der Haustür, auf Zehenspitzen blickte es ins Freie hinaus.
Peer hielt noch immer den Schlüssel in der Hand. „Nun, dann will ich mal in meine Wohnung“, sagte er.
„Oh ja“, ereiferte Janina sich, „letzte Woche war hier ein Trubel, sie kamen mit Umzugskisten, es war eine Spedition, drei Männer trugen Möbel und Kartons in Ihre Wohnung. Ich habe mich schon gefragt, wer da einzieht, aber ich konnte nicht ahnen, dass da ein ...“
„Was? Dass ein Behinderter einzieht?“ Er drehte den Rolli.
„Nein, warte!“
Er hielt inne, sie zögerte. „Was ich sagen will, wenn du Hilfe brauchst, ich meine, wollen wir nicht du sagen?“
„Ich komme schon zurecht.“ Er legte die Hand auf die Griffreifen und drehte sich mit einem Ruck weg. „Da ist noch eine Kleinigkeit“, sagte er und machte eine Pause, damit sie wusste, dass er nicht zu sich, sondern mit ihr sprach.
„Ja?“, fragte sie.
„Der Schlüssel der Haustür, warum passt der nicht?“
„Oh, ja –“ sie eilte zu dem Türfensterchen und nahm ihr Kind an die Hand. „Das hatte ich vergessen. Meiner steckt von innen. Wenn der Schlüssel von innen steckt, kann man von außen nicht aufschließen, so einfach ist das.“ Sie schwieg, Peer spürte, dass sie nervös war. – „Ich konnte nicht ahnen, außerdem hatte ich Angst, dass Sergio, mein Mann –“
Peer schob den Wohnungsschlüssel in das Schloss seiner Tür.
Das Kind sprang herbei. „Ich helfe dir, ich zeig dir, wie das geht.“ Es quetschte sich zwischen Rollstuhl und Tür, fingerte und ruckelte an dem Schlüssel. Die Tür öffnete sich.
Peer blickte auf. Ja, die Türrahmen sind breit genug, stellte er fest.
Der Boden seines Flures war bedeckt von einer langen Stange in hellblauer Kunststoffverpackung, die von der Eingangstür bis hinten gegen die Korridorwand lehnte. Was war das? Er manövrierte mit dem Rollstuhl heran und entdeckte unter dem Plastik hell gemasertes Holz. Ah, eine Reckstange, sie war noch nicht befestigt.
Hell fiel ein Lichtstrahl schräg durch das Fenster eines der hinteren Räume in den langen Korridor. Peer kurvte an der Stange entlang, vorbei an der Garderobe. Jacken und Mäntel waren aufgehangen. Er erschrak: Die Wohnung war vollständig eingerichtet, seine persönlichen Gegenstände in die Regale sortiert und es waren seine Mäntel und Jacken, die an der Garderobe hingen. Gott! Dort, in der Mitte des Regals, ordentlich aufgetakelt, stand das Modellschiff der Fregatte, die er zu seiner Schulzeit gebastelt hatte, und seine Bücher – die Rücken seiner Bücher bildeten einen ordentlichen Abschluss mit den schwarzen Regalbrettern – einen Moment schämte er sich. Irgendwer musste Buch für Buch zur Hand genommen, die Titel studiert und in die Fächer geräumt haben. Die Mitte der Bücherregale war ausgespart – eine breite Fernsehnische mit einem geräumigen Couchtisch davor. Zeitschriften lagen auf dem Tisch, die „Avion“, die „Deutsche Militärzeitschrift“ und der „National Review“. Scheiße, verdammte Scheiße, ärgerte er sich, warum haben sie die Sachen nicht in den Kisten gelassen. Haben sie gedacht, ich bin behindert, völlig behindert? Zu behindert, Kisten auszupacken und meine privaten Dinge selbst zu sortieren?
Das Kind befingerte einen geflochtenen Topfuntersetzer. Scheiße, das Kind. Er erinnerte sich, die Wohnungstür hinter sich offen gelassen zu haben. „Wie heißt du eigentlich?“, wollte er wissen.
„José Guillermo“, gab das Kind zur Antwort, und, als müsse es dies beweisen, drehte es sich zu ihm, zeigte auf sein schmuddeliges weißes T-Shirt, auf dem eine Katze appliziert war. Unter der Katze las Peer in schwarzen Riesenlettern: KIDDYCAT.
„Kannst du lesen?“, fragte das Kind.
„Kiddycat“, sagte er.
„Das bin ich und ich bin fünf Jahre alt.“ Das Kind hatte im Nebenzimmer ein Bett entdeckt, ließ sich auf der blauen Bettwäsche nieder, wippte mit dem Gesäß auf und ab. „Wer ist die Frau?“, fragte es, und Peer sah, wie es mit dem Finger auf eine Stelle neben der halb geöffneten Tür wies.
„Verschwinde!“, knurrte er.
Das Kind kam mit einem gerahmten Bild zurück. „Warum darf ich die Frau nicht ansehen?“, fragte es und drehte das Bild zu ihm hin.
Gina! Das Bild von Gina, oh mein Gott, Peer zuckte zusammen, sein ganzer Körper krampfte. „Stell das Bild zurück!“, befahl er. „Bring es zurück!“
„Hol es dir, hol es dir doch!“, feixte das Kind und wedelte mit dem Bild vor seiner Nase.
Peer war schneller, er bekam das Kind am Handgelenk zu fassen. Das Bild fiel zu Boden. Vom Boden hoch grinste ihn Gina an, Gina, Gina, oh, Gina. Wer hatte das Bild von Gina ausgepackt und in sein Schlafzimmer gestellt, einen Moment flammte Wut auf, blinde Wut, dann Hilflosigkeit, wer hatte ihnen erlaubt, das Bild anzufassen, wer hatte ihnen verdammt noch mal erlaubt, seine Gefühle auszustellen?
„Wer ist das?“, fragte das Kind und rieb sein Handgelenk.
„Nichts, niemand, niemand.“ Peer kurvte mit dem Reifen des Rollstuhls an das Bild heran. Er zögerte, dann überfuhr er das Bild, langsam, Millimeter für Millimeter, erst über die Holzkante, das Glas brach mit einem Knacks, die Scherben ritzten das Foto ein, die Winkel des Holzrahmens platzten auseinander.
Ängstlich sah das Kind ihm zu.
„José Guillermo, was machst du hier?“ – Seine Mutter war unbemerkt in Peers Wohnung gestürmt, sie nahm den Jungen an die Hand, doch er protestierte, ging in die Hocke, um das Bild retten, aber sie zog ihn mit einem Ruck weg., „Siehst du nicht die Scherben, du kannst dich verletzen. Entschuldigen Sie!“ Sie sah Peer mit einer Miene an, die verriet, dass sie an seiner geistigen Unversehrtheit zweifelte.
Er manövrierte mit dem Rollstuhl zurück, betrachtete noch immer das Bild am Boden, kurvte herum, mit Schmerz im Gesicht. Gina, Gina. Erinnerungsfetzen brachen frei: Gina in den Bergen, Gina auf dem Motorrad, Gina hinten, er vorne, Gina lachend. Dann sah er auf, sah die fremde Frau an, diese Janina Sowieso, Mutter dieses José Sowieso oder Kiddycat, oder wie auch immer, die Frau stand da in ihrer eleganten teuren Kleidung mit ihrer makellosen weißen Haut, dem lippenstiftroten Mund, aus dem Worte purzelten, lauter schimpfende Worte und das zappelnde Kind an ihrer Seite, im verrotzten weißen T-Shirt, mit seiner dunklen Hautfarbe. Es passte nicht. Es passte nicht, es passte alles nicht, es ist alles ein schlechter Film, sagte er sich. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen!“ Er drehte den Rollstuhl, schob Mutter und Kind vor sich her den Korridor hinaus und als sie im Treppenhaus verschwanden, genau im selben Augenblick erhaschte er mit einem Blick, dass der Abstand zwischen der Wand der Duschkabine zur Wand nach hinten exakt zwei Zentimeter zu kurz war. „Chewbakker, es sind zwei Zentimeter zu wenig“, flüsterte er. „Chewbakker, verstehst du, ich komme in meiner eigenen Wohnung nicht einmal auf die Toilette!“
Er schob sein Bein vor und drückte den Rücken gegen die Rollilehne. Peer, alter Knabe, wie kannst du in deinem Zustand in eine Wohnung ziehen, hatte Chewbakker gesagt. Es ist nicht meine Schuld, dass etwas nicht passt, rechtfertigte er sich, wenn ich richtig sehe, habt ihr den Reifenabstand falsch bemessen, ihr habt die Griffreifen vergessen. Er spürte, wie die Pranke des schwarzen Pflegers sich versöhnlich auf seine Schulter legte und seinen Rücken nach unten drückte, als wollte er ihn in die Knie zwingen, Hör zu, alter Knabe, ich habe gesagt .... – Ja, schon gut. Er sah die freundlichen Augen und Chewbakkers sorgenvoll schwarz-gerunzelte Stirn, die wulstigen Lippen. Dann hatte er die kalte Atemwolke an seinem Ohr, als er ihn die steile Rampe nach oben fuhr. Vergiss nicht, wenigstens um zwölf die Blase zu leeren, okay?
Okay. Zwölf! Es musste längst zwölf sein!
Er setzte zurück, durchsuchte die Zimmer, links gegenüber der Toilette die lange Korridorwand, dann geradeaus das Wohnzimmer, eine Wohnküche mit Ausblick zum Hinterhof, ah, die Kochecke, eine Küche, eine kleine Küche. Dann fand er die Tasche. Sie stand auf der Anrichte neben seinem Bett. Gott sei dank, die Tasche. Er zog sie auf seinen Schoß, es war eine kleine schwarze Tasche, doppelt so groß wie ein Kulturbeutel. Er riss den Reißverschluss auf, kramte Verbandzeug, Mullzeug, Schmerztabletten, die Einmalkatheter hervor. Die Einmalkatheter, ja. Hör zu, alter Knabe, ich will dich nicht mit einer Nierensache im Krankenhaus wissen.
Nein, keine Sorge. Er fuhr mit der Tasche ins Wohnzimmer, setzte sie auf dem Esstisch ab. Der Esstisch, ein charakterloser Tisch unter einer langen sterilen weißen Wand. Eine lange sterile weiße Wand, ein Wachstuch auf dem Tisch, ein Wachstuch? Eine weiße sterile Wand, ein Wachstuch, was bildeten die sich ein, dass ich ... nein, ich bin kein sabbernder, tröpfelnder stinkender Kretin, fluchte er. Das Zeug muss weg, das Zeug muss verschwinden, alles muss verschwinden, ich will nicht in einer gottverdammten Anstalt leben. Er riss den Einmalkatheter aus der Packung, die Plastikkanüle war halb so lang wie sein Unterarm. Angst schnürte seine Kehle zu. Er wandte sich ab, kurvte zu einer Lade unter der Spüle, entdeckte die Abfalltonnen, links daneben auf einem Brettchen blaue Müllsäcke, er riss einen ab, schüttelte ihn auf. Mit einem Ruck zog er die Wachstuchdecke vom Tisch und stopfte sie in den Sack. Eine neue Tischdecke werde ich kaufen, eine aus Stoff. Versteht ihr, ich bin ein Mensch. Schließlich betrachtete er die Scherben auf dem Boden, einen Moment verließ ihn der Mut. Chewbakker hat mir eine Menge zugetraut, alter Knabe hat er gesagt, wenn man bedenkt, wie sie dich aus deinen Einzelteilen wieder zusammengesetzt haben. Peer, dass da draußen ist eine harte Nummer.
Es sind nur die Schmerzen, nur die Schmerzen, sagte er sich, ich schaffe das.
Die Schränke hingen tief, auch die Arbeitsplatte ließ sich höhenverstellen, es stimmte ihn versöhnlich. Wenn nur das Plastik nicht wäre. Er zog den Besteckkasten auf, nahm alles Plastikzeug heraus, Gabel, Messer, Becher, da waren Teller und Tassen aus Kunststoff, er warf sie in den Sack und drehte ihn zu. Er schleifte ihn neben dem Rollstuhl über den Boden, nahm die Fregatte zur Hand, betrachtete sie. Ein Stück Erinnerung. Er stellte sie zurück. Die Zeitschriften, Gina hatte sie nicht gemocht. Gina – er fuhr in die Küche, sah sich um, schließlich fand er die Lösung. Er bückte sich, klemmte ein Kehrblech in die Speichen seines Rollis und schob mit dem Besen die Scherben auf die Kehre. Es ging schwerer als gedacht, eine nach der anderen, er musste sie einzeln aufnehmen, bekam den Oberkörper kaum gedreht, spitz und hässlich glasscharf verhakten die Scherben sich in den Haaren des Besen. Die Größeren rissen die dünne Haut der Tüte ein, und er sah das Kind, José Guillermo oder Kiddycat, oder wie auch immer, barfuß laufen. Unschuldig funkelten die Splitter. Sein Nacken stand schräg zur Kehre, so schräg, dass Speichel aus seinem Mundwinkel tropfte. Es ärgerte ihn, mit dem Ärmel seines Hemdes wischte er ihn von der Hose.
Weg mit der Erinnerung, sagte er sich und drehte den Müllsack zu.
„Und nun zu Ihnen“, Frau Nachbarin.
Er spürte, wie sie hinter ihrer Tür durch den Spion sah und er klopfte ungeduldig gegen die Tür, schellte noch einmal.
„Ja?“ Sie öffnete.
„Ich will das hier wegwerfen“, sagte er, nickte dem Sack auf seinem Schoß zu und versuchte ein Lächeln. – „Geben Sie her!“ – doch er machte einen Dreher zurück. „Sie sollen nur sagen, wo die Tonnen sind!“
„Da hinaus“, sagte sie, und zeigte nach hinten, hinter den Treppenaufgang.
Er wendete. Über dem schmalen Gang zum Hinterhaus krümmte eine Holztreppe sich zu einem Treppenabsatz, das Holz knarrte, ohne dass es jemand betreten hatte. Der Riegel zur Hintertür klemmte, seine Finger zitterten.
Als er im Freien war, fiel die kalte Luft wie ein Jäger über ihn her, der dünne Stoff seines Flanellhemdes klebte an Armen und Schultern, der scharfe Wind blies welkes Laub vom Türabsatz hinein ins Treppenhaus. Peer sah auf verwilderte Beete voll Brennnesseln und Brombeeren, hinten im Garten standen zwei Bäume eng beieinander, er kniff die Augen zusammen, ein dunkler Rhododendronbusch tauchte die Zaunseite des Gartens in finstere Halbschatten.
„Na also, was hab ich gesagt?“ Sie stand hinter ihm. „Kommen Sie schon!“ Sie pflückte den Sack von seinem Schoß, hüpfte die beiden Stufen zu den Tonnen mit einem Sprung hinab. „Wenn Sie meinen, alles ohne Hilfe zu schaffen, müssen Sie die Tonnen entweder mit in Ihre Wohnung nehmen, oder sich hier eine Rampe anbringen lassen.“
„Letzteres.“
„Letzteres?“
„Ja, und ich muss nicht die Rampe anbringen lassen.“ Lassen sagte er laut und mit Nachdruck.
Sie nickte. „Hab schon kapiert – Sie, Herr Nachbar.“ Sie sagte Sie mit Nachdruck, doch als sie den Müllsack hochhob und über der Tonne ausschütten wollte, schrie er: „Vorsicht Scherben!“
Gemeinsam und nebeneinander starrten sie von den Stufen hinunter in den Hinterhof. Er spürte, wie der Wind unter sein Hemd nach seiner warmen Haut griff. Er sah sie in ihrer weißen dünnen Bluse, von der er nur den Zipfel eines Ärmels erhaschte. Er musste den Kopf nicht drehen, um ihre harten Brustknospen unter dem weißen Stoff zu ahnen. „Der Garten, er ist ein wenig verwildert“, sagte er.
„Wenn man bedenkt, dass die Leute hier früher Schweine gehalten haben“, erwiderte sie.
„Schweine? Im Garten?“
„Hm, sind alte Zechenhäuser, wissen Sie das nicht? Ich wollte den Garten für unser Kind herrichten lassen“, erzählte sie, „José Guillermo soll ein Planschbecken bekommen, vielleicht eine Schaukel dort hinten zwischen den Bäumen, aber Sergio hat mir das verboten.“
„Sergio?“
„Ja, mein Mann. Er will unbedingt weg von hier. Er findet die Gegend voll asozial. Was meinst du?“
Asozial? Peer zuckte zusammen, „wie spät ist es?“, fragte er.
„Viertel nach drei.“
Viertel nach drei! Oh Gott! Eilig schob er sich rückwärts durch die Tür, den Treppenhauskorridor zurück und wendete vor seiner Tür.
„He, du hast mir deinen Namen gar nicht verraten“, rief Janina ihm hinterher.
Ohne eine Antwort kurvte er über die Schwelle und schloss die Tür von innen.
Er spürte noch immer keinen Druck, wie abgeschnitten war die Blase von seinem Körper. Er zog den Reißverschluss auf, streifte die Hose vom Becken und klopfte gegen den Unterbauch. Das Kondomurinal war leer. Komm schon, komm schon ... der Reflex blieb aus. Ich bin nervös sagte er sich, es kann nicht funktionieren. Es kann nicht funktionieren, wenn ich nervös bin. Er zog die Seitenverkleidung der Duschkabine weg, spürte eine unbestimmte Angst. Fest drückte er die Finger gegen den Unterleib. Du darfst nicht Auspressen, hatte Chewbakker gesagt, das schadet der Niere. Scheiß drauf! Mit der rechten Hand umfasste er die Linke, er krümmte den Leib und drückte so fest, dass die Fingerknochen schmerzten. Mit dem Kopf vor seinen Knien, über die Ecke der Duschtasse gebeugt spürte er, dass er würgen musste. Er drückte und presste, hob den Oberkörper, klopfte wieder. Er hörte Chewbakkers Stimme: du darfst nicht Auspressen, du darfst nicht Auspressen!
Er sah auf. Wann war deine letzte Blasenleerung, wann der letzte Stuhlgang, es ist besser, du schreibst dir das auf, hm?
Verdammte Scheiße, er schüttelte den Kopf. Aufschreiben. „Irgendwann heute Morgen, um sechs“, fluchte er. „Aber ich bin frei, hört ihr, ich bin frei.“
Mindestens viermal täglich. Mindestens viermal!
Ist klar.
Heute Morgen um sechs war er zu aufgeregt gewesen, erinnerte er sich, und gestern Abend vor dem Schlafengehen hatte er die Blasenentleerung auf den Morgen verschoben. Er verspürte keinen Druck, seit zwei Tagen schon spürte er keinen Druck mehr. Er war sich sicher, sie hätten ihn nicht gehen lassen.
Seine Hände zitterten, als er das flüssige Sterillium auf die Handfläche spritzte. Er streifte das Kondomurinal ab, die Haut des Penis war verschrumpelt, matt und fahl. Er zog die Vorhaut zurück, spritzte Desinfektionsmittel. Das Plastikröhrchen, wo war der Katheter, mit der Katheterspitze, mit der Spitze musste er durch das hohle Auge, rosa und weich – er massierte die Eichel. Das Röhrchen muss hinein. Seine Hand war unruhig und krampfte. Komm schon, alter Knabe, du spürst da unten nichts mehr, doch die Vorstellung Schmerzen zu haben, die nicht zu spüren waren, schürte seine Angst noch mehr. Er biss die Zähne zusammen, gab Gleitmittel in die Harnröhre und drückte dann und mit einem Ruck den Katheter hinein.
(Auszug aus: „Ene mene eBay“, Elke Bockamp)